Als ich Studentin war, leitete ein Paukist ein Probespieltraining. Geduldig hörte er dem teilnehmenden Fagottclan zu, wie wir unsere Mozarts und ein paar Orchesterstellen runterschnurrten und sagte dann etwas nachdenklich:
„Ich stelle mir grad vor, wie das zu Mozarts Zeiten war. Pferdekutschen, kein Radio, kein Fernsehen, keine Geräte. Stille. Etwas anzuhören braucht Raum. Zu der Zeit hatten die Leute Zeit – so gut wie niemand hatte eine Uhr. Warum spielt ihr das dann so schnell? Wir sind so derartig dran gewöhnt zu hetzen, daß wir die Musik umbringen. Schneller, schneller und schneller. Unsere Ohren kriegen einen Geschwindigkeitsrausch. Aber zu welchem Preis?“
Darüber hatte ich tatsächlich noch nie nachgedacht.
Alles, was wir erleben, steht in einem Gefüge. Wir packen es in ein Umfeld.
Wo sitzt das?
Wie paßt das zu dem, was ich gewohnt bin?
Womit gleiche ich das hier ab?
Hören wir so ein wildes Teil wie ein Fagott zum allerersten Mal in einem farbenfrohen Live-Event im finsteren 18. Jahrhundert in all seiner Stinkigkeit und ohne Internet?
Oder hören wir – und spielen wir – eine Probespielstelle zum zweihundertmillionsten Mal. Musik, von der wir zu träumen beginnen, die nicht nur allgegenwärtig ist, sondern uns auch mal zu den Ohren raushängt und, gewagt formuliert, regelrecht belästigt?
Kontext ist alles.
Das erinnert mich an etwas, das mir eine gute Freundin erzählte, die Ärztin ist. Traditionelle Medizin konzentriert sich darauf, was die Zellen so machen. Das klingt gut und recht, ist aber dennoch einengend und begrenzt und führt zu Verständnisschwierigkeiten bestimmter Krankheiten. Funktionelle Medizin hingegen, das erklärte sie mir, befaßt sich ebenso mit dem Raum zwischen den Zellen, dem sogenannten Extrazellulären Raum. Also wo sitzt das?
Zwei kleine Schüler von mir spielten ein Duett sehr manierlich und für ihr Alter durchaus passabel. Bei einer Gelegenheit kam dieses Stückerl anderen Instrumentalisten zu Gehör. Die Rückmeldungen waren, daß es noch viel zu tun gibt. Intonation, Technik, der Ausdruck, alles braucht noch eine gute Portion Arbeit.
Die selben Spieler spielten das selbe Stückerl vor einem Publikum, in dem sich ein paar Fagottlehrer befanden. Sie alle lobten die jungen Künstler ausführlich für ihre schon super schnellen Finger und ihr tolles Spielen. So gut waren sie schon, einfach toll! Weiter fleißig üben, dann werden sie großartig!
Kommst Du das nächste Mal in eine Situation, wo Du stutzt, dann schau Dich um und frag:
Wo sitzt das?
Verglichen – womit?
Herzlichst,
Anselma
p.s. Lust auf perfekte Einspielübungen? Hier sind sie! Ein exklusives Geschenk an meine hochgeschätzten Kolumnen Leser. Eine Verison für etwas fortgeschrittene Spieler und eine für fortgeschrittene Spieler. Frohes präludieren!