Veröffentlicht am

Pinocchio, die Horrorpuppe

Eine der interessantesten Geschichten, die ich jemals gelesen hab, ist Die Abenteuer von Pinocchio im Original von Carlo Collodi aus dem Jahr 1881. Dieses Buch basiert auf einem alten Toskanischen Märchen. Die Weite und Tiefe dieser Geschichte ist weitgehend unbekannt, da sie in der Disney Version ausgespart wurde.
Jeder kennt Pinocchios Wahrheit verratende Nase. Weit spannender als diese ist der verblüffende Kern der Story.

Pinocchio ist eine Holzpuppe, die in den Händen eines Schreiners names Gepetto entsteht. Dieser Meister seines Fachs bastelt die kleine Puppe mit Geschick und Hingabe zusammen und tritt damit in die Stapfen der Kunst, burattinos (italienisch für Handpuppe) zu schöpfen. Seit Jahrhunderten wird diese Tradition in Norditalien gepflegt und ist eine eigene Sparte, die Schnitzen, Meißeln, Sägen und Knüpfen beinhaltet.

Collodis Geschichte erzählt, daß Gepetto sich nicht ans Werk machte, um die Zeit mit Marionettenbauen totzuschlagen. Er geht mit der gezielten Absicht vor, eine Holzpuppe zu erschaffen, die so stark und voller Charakter ist, daß sie das Zeug dazu hat, eines Tages lebendig zu werden. Er erlangt ein verzaubertes Stück Holz und beginnt sein kunstvolles Werk.

Die Puppe ist noch gar nicht vollendet, da beginnt sie auch schon, bösartig zu keppeln und seinen Schöpfer zu beschimpfen. Pinocchio entpuppt sich als grober und hinterfotziger Kerl. Sobald er seine Beine hat, springt er von der Werkbank auf, läßt Gepetto zurück und sekkiert Leute draußen auf der Straße. Gute Ratschläge schlägt er grundsätzlich in den Wind und als er kritisiert wird, erschlägt er kurzerhand vor Zorn eine Grille.

Pinocchio hat ein selbstzentriertes, egoistisches Verhalten und wird sogar zwischenzeitlich in einen Esel verwandelt. Dank seiner unguten Art gerät er auch in die Hände des Räudigen Fuchs und des Straßenkaters. Das sind Gauner, die es auf die Goldstücke abgesehen haben, die Gepetto in Pinocchios Tasche eingenäht hatte. Als es nicht gelingt, ihm alle Münzen abzuluchsen, machen sie sich dran, ihn kurzerhand zu hängen. Im letzten Moment wird er von einer guten Fee in der Geschichte gerettet.

Am Ende wird Pinocchio von einem Wal verschluckt. In dessen finsteren Bauch trifft er auf Gepetto, seinen Schöpfer. Er hört ihm nun zu und das wiederum macht, daß Pinocchio zum Leben erwacht und ein Menschenkind wird.

Was für eine Story!
Und ich muß gestehen, daß ich selbst in, nunja, sagen wir unsteten Zeiten meines Lebens, wohl nicht weit davon entfernt war, mich pinocchio-esk aufzuführen und in einen Esel zu verwandeln.

Es beschleicht mich das Gefühl, daß wir im Grunde alle eine Art hölzerne Puppe sind, die aus dem verzauberten Zeug, das man gemeinhin Leben nennt, geschnitzt wurden.
Vielleicht müssen wir alle, einer früher, einer später, den bösartigen und ignoranten Tendenzen in uns begegnen, um sie zähmen zu lernen und um zu verstehen, daß es unsinnig ist, sie Amok laufen zu lassen und wie wir mit ihnen auf eine etwas reifere Art umgehen.

Wie sonst, wenn nicht auf diesem Wege, erhalten wir die Möglichkeit herauszufinden, zu welcher Person wir uns selbst machen möchten?
Schließlich sind es wir – und wir selbst allein -, die beschließen, wer wir genau sind, wie unsere wahre Natur nun aussieht und welchen Typ von Mensch wir gern verkörpern wollen.

Es gibt diesen schönen Spruch, daß es einfach ist, als Mensch geboren zu werden aber schwer, einer zu werden.

Wir alle starten begleitet von wohlwollenden Händen und guten Wünschen. Dennoch sind es wir selbst, die den guten Kern mühsam hervorholen müssen, indem wir einen Weg aus eigenen Sackgassen wie Ignoranz, Frust und Ärger herausfinden.

Und wenn wirs richtig machen, kommt irgendwann die gute Fee vorbei, die uns wieder auf die Füße stellt, wenn wir mal wo ernsthaften Quatsch machen.
Irgendwie beruhigend zu wissen….

Für alle Fälle: Nicht in die Nähe von Walen paddeln, Goldstücke in der Hosentasche gut festhalten und wenn Du Füchse und räudige Kater zusammen siehst, sicherheitshalber erst mal die Straßenseite wechseln, das wäre mein Rat! 😃

Herzlichst,
Anselma