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Reinbuttern

Als ich klein war hörte ich öfters mal, daß ich so toll talentiert wäre. Und natürlich gefiel mir das! Wem würde das nicht gefallen?!
Schlaues Ich, dacht ich, ha, machst Du mehr davon!
Das Leben war damals einfach. Wie ein Pawlowscher Hund wußte ich, säg ich auf meiner Geige, klimper auf ein paar Tasten oder sing ich laut was vor, krieg ich ein Keksi. Die Welt war in Ordnung und leicht durchschaubar.

Zu meinem Missfallen änderte sich da aber was, als ich älter wurde. Das mit dem talentiert sein schien blöderweise nicht mehr so zu ziehen. Irgendwann genügte das nicht mehr. Was statt dessen mehr und mehr gefragt war, war was ganz und gar Ungemütliches: nämlich Knochenarbeit.

 

Um den schönen Mythos vom talentierten Mädel, der mir doch so gefiel, aufrecht zu halten, mußte ich mehr und mehr investieren. Meinen Erleuchtungsmoment hatte ich, als ich mich mit einem russischen Klavierlehrer unterhielt. Der sagte mir: „In Rußland ist das ganz einfach: wer am meisten übt, ist am talentiertesten.“

Oh Mann. Das war jetzt nicht so ganz genau das, was ich hören wollte.
Er hatte mir meinen Talent-Teddy gestohlen!?
Und ich gebs zu, ich hatte gewisse Akzeptanzschwierigkeiten mit diesem Konzept.
Um dieses schöne, mystische Glitzerding namens Talent gings gar nicht mehr, sondern um sowas Uninteressantes wie hinsitzen und üben. Üben wie ein Besessener. Wie ein Junkie. Wie jemand, der nicht nach der Flasche rennt, sondern nach den Tonleitern.

So schmerzhaft das war, aber die Realität sah so aus:
Mein Talent brachte mir Einladungen, auf Omas Geburtstag zu spielen.
Mit viel Reinbuttern gabs dann etwas größere Bühnen.
Später fand ich heraus, daß ich da – obwohls erst sowas von lästig war – was ganz Nützliches gelernt hatte. Nicht nur für die Musik, sondern für so ziemlich alles: eine vernünftige Arbeitshaltung.

Ab da wußte ich: Wenn man sich was in den Kopf setzt, braucht es viel Einsatz, manchmal verdammt viel Einsatz. Nicht bloß eine hübsche Idee.
Der Mythos der Begabung ist ein Märchen, das man Kindern erzählt, um sie bei der Stange zu halten. Im echten Leben zählen dann faktisch die real geleisteten Kilometer.

Es ist, wie der russische Lehrer gesagt hatte: Wenn wir uns genug draus machen, uns wie blöd reinzuhängen, kommen wir eines Tages mit einem Lächeln heraus – weil wir gewonnen haben.

Ich denke, man tut gut daran, nicht allzu viel in das Etikett „Talent“ zu investieren. Klar ist es motivierend, wenn andere sagen, daß sie von unserem großartigen angeborenen Genie beeindruckt sind. Wer möchte das nicht hören?!
Im echten Leben ist es die harte Arbeit, die wir reinstecken, die unseren Charakter formt und uns Stärke und Rückgrat gibt. Talent ohne Arbeit ist nichts.

Konnte Maurice André so bezaubernd spielen, als er das erste Mal eine Trompete anfaßte?
Nein. Erst viele harte Jahre der harten Arbeit machten das möglich.
Konnte Mozart mit fünf Jahren eine Symphonie komponieren bei seinen ersten Schreibversuchen?
Nein. Erst viele harte Jahre der harten Arbeit machten das möglich.

Natürlich gibt es schnelle und langsame Lerner, das bestreitet keiner.
Aber der Punkt ist, wir sind alle Lerner. Es gibt kein angeborenes Genie.
Nur so eines, das sich durch Arbeit erst entfaltet.

Das mit dem Talent ist ein Marketing Trick, um jemand zu interessieren. Da darf man sich nicht täuschen lassen.

Man ist besser dran, das einfache und langsame Ding – genannt ausdauernd Reinbuttern – zu genießen, das man viele Jahre praktizieren darf, ohne daß man jemals komplett ankommen wird.
Ein gutes Stück Arbeit ist nötig, um in dem gut zu werden, was man liebt.

Herzlichst,
Anselma

p.s. Scott Pool, Fagott Professor an der University of Texas in Arlington, hat eine tolle Tango-Etüden Serie gestartet, wir freuen uns so sehr darüber!! Hier sind seine Einspielungen von Moto di tango und Milonga esercizio, wo Scott junge Autoren mit seiner Kunst zum kreativen Schreiben inspiriert, coole Sache! :o)

 

 

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