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Wo Du stehst

Vor einigen Jahren fragte mich eine Freundin, ob ich ihr dabei helfen würde, Haikus des berühmten buddhistischen Meisterlehrers Daisaku Ikeda zu übersetzen. Diese Haikus waren japanische Sinnsprüche und kleine Gedichte, die auf zauberhafte Weise Schönheit, Klugheit und Lebensweisheit zum Ausdruck bringen.

Ich war alles andere als sicher, daß ich die geeignete Person für so eine Aufgabe war. Immerhin war ich fast alle 8 Jahre im Gymnasium um ein Haar in Deutsch wegen schlechter Rechtschreibung und meinem Unwillen, mich an Textvorgaben zu halten, durchgefallen.
Mein Gehirn war offensichtlich nicht dafür gemacht, wiederzukäuen und zu gehorchen…

Nichts desto trotz, meine Freundin insistierte, ausgerechnet von mir Unterstützung für dieses Projekt haben zu wollen. Sie hatte in Japan japanische Literatur studiert und hatte ein ausgezeichnetes Verständnis für solcherlei Texte. Bei der Übertragung ins Deutsche hakte es aber.
Wir fanden heraus, daß die besten Übersetzungen rauskamen, wenn sie die Haikus auf Englisch übersetzte und ich diese dann ins Deutsche übertrug.

Eines meiner liebsten Haikus lautete:
Grabe unter Deinen Socken. Dort findest Du das Glück.
– Ja, da stand tatsächlich Socken!
Was ich echt witzig finde – und auch ziemlich japanisch.

An diesen Spruch denke ich oft. Er ist so weise.

Wenn ich mein Leben betrachte, erkenne ich drei Tendenzen:
1.) Nicht genau hinzuschauen, was mir genau passiert, also im Grunde ignorieren,
2.) „positiv“ zu denken und Dinge rosa einzufärben, also unrealistisch zu sein oder
3.) ein Drama zu machen und Katastrophen zu sehen, wo gar keine existieren.

Ich denke, unter den Socken zu graben, ist eine schön formulierte Einladung an uns, zur Kenntnis zu nehmen, was wirklich da ist.
Es bedeutet, dem Drang, oberflächlich und seicht zu sein, zu widerstehen.

Es ist sehr menschlich, Dinge unter den Teppich zu kehren, um nicht überwältigt zu sein.
Aber letztendlich wird alles, was wir drunterschieben, irgendwann unter dem Teppich wieder hervorquellen. Also ist es klug, das Gekehre von vornherein zu lassen.

Zur Kenntnis zu nehmen, was da ist, bedeutet wohl auch, die rosa Brille abzunehmen. Genauso wie die Drama Brille.
Beide auf der Nase sitzen zu haben, ist ein Zeichen, daß wir unser Leben einem Hollywood Skript nachbauen, bei dem wir lachen, weinen, echt sauer werden, uns extrem verknallen und den Bösewicht hassen – und das alles in weniger als 30 Minuten.

Was an und für sich genommen echt lächerlich ist.
Es ist weder schöpferisch noch weise, sich im Spiegelkabinett des eigenen Emotions-Theaters zu verlaufen.

Zur Kenntnis zu nehmen, was da ist, bedeutet denk ich auch, nicht zu leugnen und nicht aufzugeben. Es ermutigt uns, stark zu sein, Dingen direkt und ohne Scheu ins Aug‘ zu sehen und dann etwas mit ihnen zu machen.
Oder sie gerade zu richten. Je nachdem.

Grabe unter Deinen Socken. Dort findest Du das Glück.

Ah, und übrigens. Als wir die Übersetzung fertig hatten, schickte meine Freundin dem großartigen Autor in Japan eine Kopie. Er sandte uns persönlich seine Grüße als Antwort und sagte, er wäre beeindruckt von diesem Werk. Au Mann, wir fühlten uns so geehrt!

Unter den Socken nach deutschen Worten zu graben, brachte mir tatsächlich ein Stück vom Glück! :o)

Ich wünsche Dir einen wunderschönen Sommer,
herzlichst,
Anselma

 

 

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