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Die schwarzen Punkte

Der Professor betrat den Raum und verteilte den Test. Er zeigte ein weißes Blatt Papier mit einem kleinen schwarzen Punkt in der Mitte. Seine Schüler sollten darüber schreiben, was sie sahen.

Alle schrieben das selbe: über den kleinen schwarzen Punkt.

Kein einziger schrieb über den weißen Teil der Seite und was man mit ihm anstellen kann.
Kein einziger schrieb über die Freiheit, die der leere Raum gibt und die Kreativität, die man drauf fliegen lassen konnte.

Kein einziger schrieb darüber, wie man diesen kleinen schwarzen Punkt weiter entwickeln, ihm Bedeutung geben konnte.
Kein einziger schrieb über die Perfektion der weißen Farbe und über die weiche Textur des Papiers.

Kein einziger drückte die Perspektive aus, etwas Sinnstiftendes mit einem unbeschriebenen Blatt zu machen.
Kein einziger sagte: Danke für die Einladung, auf Papier zu träumen und etwas entstehen zu lassen, das vorher nicht da war.

 

In den Augen des Professors fielen alle Schüler bei diesem Test durch.
Der Kernpunkt wurde von allen übersehen, alle schrieben am Thema vorbei.

Aber er beschloß, diesen Test nicht zu benoten. Die Erinnerung würde ohnehin haften bleiben. Und darum gings ja.

Beim Lesen kamen mir zwei Dinge.
Erstens: Die Geschichte beschreibt jemanden, der die menschliche Natur wahrhaft versteht.
– Wir sind eine geballte Ladung kreativen Potenzials. Nur, dieses Potenzial muß erweckt werden. Sehen wir nur schwarze Punkte, schläft es tief und fest.

Zweitens: Die wichtigen Prüfungen des Lebens sind nicht die, für die es Noten gibt.
– Das Leben zeigt sie uns in seiner ganz eigenen Sprache.

 

Wenn wir etwas nicht erinnern, hat es auf eine Art nicht stattgefunden. Wie mein Deutschunterricht, den ich zwölf Jahre ertragen habe. In einer Schulstunde haben wir ein Gedicht in Bewegung umgesetzt. Das weiß ich noch. Bei allen anderen bin ich nur an einem Tisch gesessen und erledigte Zeug, das für mich irrelevant war.
Keine Erinnerung, kein Erleben, also kein Lernen. Zeit futsch.

Unser Erziehungswesen basiert großteils darauf einzuengen, wer wir sind und welche Inhalte sich in unserem Kopf befinden. Wir werden nicht angeleitet zu träumen, zu erfinden, zu erkunden, Abenteurer der Schöpfung zu werden.

Wir lernen nicht zu denken. Sondern korrekt wiederzugeben.
Das ist was komplett anderes.

Wir werden abgerichtet, Formulare auszufüllen, lebensfeindlichen Strukturen zu gehorchen, geistlosen Papierkram zu erledigen, Roboter als Lehrer und Meister zu sehen, hungrige Algorithmen mit unseren Daten zu füttern und Multiple Choice Tests richtig anzukreuzen.

 

Was aber, wenn sowieso alle „multiplen Choices“ dieser Tests falsch sind?
Was, wenn wir nicht dafür gemacht sind, Künstliche Intelligenz zu befriedigen?
Was, wenn das Leben komplett anders vorgesehen ist?

 

Was würde mit uns passieren, wenn wir aufhören, auf schwarze Punkte zu starren und den weißen Raum sehen?

Alles Liebe
und beste Grüße,
Anselma